Als stark Sehbehinderter lernte ich früh, mein Umfeld selbst zu gestalten. Meine ersten bewussten Erfahrungen waren, aus meinem Traubinger Umfeld herausgerissen zu werden und in München eine Blindenschule besuchen zu müssen. Das würde ich heute Desintegration oder Exklusion nennen. Raus aus diesem abgeschlossenen Behindertenumfeld kam ich erst nach der Realschule. Integration wurde zum gesellschaftlichen Thema. Für Blinde gab es aber nur ein Gymnasium in Deutschland, im hessischen Marburg. Die meisten hatten als Berufsalternativen Masseur, Korbflechter oder Telefonist zur Auswahl. 1979 startete dann der erste Integrationsversuch in Bayern, in dem Blinde bzw. stark Sehbehinderte ein reguläres Gymnasium besuchen sollten. Ich gehörte zuerst nicht zu den Auserwählten. Erst nachdem weitere Teilnehmer gesucht wurden, weil die Vorgesehenen der Mut verlassen hatte, konnte ich meine Teilnahme durchsetzen. Ab diesem Zeitpunkt war meine Re-Integrationslaufbahn eingeschlagen.
Als erster blinder Informatikstudent an der TU München (Abschluss: Dipl.-Inform. Univ.) musste ich mir mein Studium dann schon selbst organisieren. Hier gab es bis dato noch keine Erfahrung und keine Integrationsprojekte. Da gab's natürlich auch noch keine Strukturen für Sehbehinderte weshalb ich zum ersten Mal ganz bewusst erfuhr, dass ich mein Umfeld selbst gestalten und verändern muss und kann.
Beruflich kann ich das Gestaltende und Konstruktive als Softwareentwickler voll ausleben. Von der Entwicklung einer Windows Oberfläche für Blinde 1993 bis zum Prototypenbau in der Cloud heute, konnte ich immer am Stand der Technik entwickeln. Dabei war immer die Fehlersuche und -Korrektur einer meiner Schwerpunkte. Notwendig ist dazu natürlich das möglichst umfassende Verständnis der jeweiligen Strukturen um strukturelle Fehler überhaupt beheben zu können.
Im privaten Umfeld läuft das natürlich ähnlich. Ich könnte mir natürlich den für mich beruflich, verkehrstechnisch, barrierefreiesten, schlicht passendsten Wohnort aussuchen, hinziehen und genießen. Nach mehreren Jahren Heidelberg und München stelle ich fest, dass ich mit Traubing-Tutzing emotional zu verbunden bin um langfristig an anderen Orten zu wohnen. Damit bleibt mir keine andere Möglichkeit, als hier die Strukturen so zu gestalten, dass ich, und damit viele andere auch, barrierefrei leben können.
Den Begriff "Barrierefrei" verstehe ich dabei in seinem umfassendsten Sinn. Er umfasst daher nicht nur aktuelle Hindernisse wie z. B. große Lücken im Öffentlichen Nahverkehr oder großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Barrierefreiheit bedeutet auch, sich keine zukünftigen Barrieren auf zu bauen. Damit gehören Ökologie und Klimaschutz letztendlich auch zum Thema.
Aus Forschungsergebnissen geht hervor, dass wir gerade für Arten und Klimaschutz nur noch sehr begrenzt Zeit zum Wandel haben. Um in Zukunft in einem lebenswerten Umfeld leben zu können, müssen wir in einer sich schnell verändernden Welt den Wandel so kontrolliert gestalten, dass wir Artenschutz und Klimaschutz die notwendige Bedeutung zumessen.
"Behindert" wird in Zukunft seine Bedeutung ändern. Während z. B. Blinden die Digitalisierung nützt, wenn sie die Möglichkeiten annehmen und den Fortschritt mitgestalten, werden bislang Nichtbehinderte, die sich dem Wandel verweigern zu Behinderten. Sie werden nur mehr innerhalb ihrer Blase kommunizieren können, beruflich benachteiligt werden und immer mehr an Mobilität verlieren.
Durch die Angst abgehängt zu werden, könnte die Gruppe der "neuen Behinderten" zu "Verhinderern" werden. Und dies nicht nur in Bezug auf Digitalisierung, sondern auf jede Veränderung, egal ob Arten- und Klimaschutz, wirtschaftliche Veränderung etc.